Der Mann genoss seinen freien Tag und schlief tief und fest, doch plötzlich klingelte es an der Tür. Wer war noch so früh gekommen? Als der Mann die Tür öffnete, sah er eine ihm unbekannte ältere Frau. Sie klopfte erschrocken mit den Wimpern.
– Wen wollen Sie denn hier besuchen? – fragte der Mann.
– Sohn, erkennst du deine Mutter nicht?
– Mama? Komm herein… du! – Er schaffte es kaum, sich zu artikulieren.
Er erinnerte sich gut an den Tag, an dem er seiner Mutter weggenommen worden war. All die Jahre hatte er darauf gewartet, dass sie ins Waisenhaus kam und ihn mit nach Hause nahm. Er hatte nicht gewartet. Irgendwann ließ der Schmerz nach. Der Junge machte seinen Abschluss, ging aufs College und eröffnete sein eigenes Geschäft. Auf die Frage, wo seine Eltern sind, sagt er, sie seien gestorben. Er hat gelernt, allein zu leben und sich nur auf sich selbst zu verlassen. Er ist selbstbewusst, unabhängig und wohlhabend und sagt nichts über die Tatsache, dass er aus einem einfachen Waisenhaus stammt.
Die Frau kann sich nicht einmal daran erinnern, wann sie ihrer elterlichen Rechte beraubt wurde. Als sie jung war, hat sie viel getrunken und im Vollrausch ihr Gehirn ausgeschaltet. Sie war auch im Gefängnis, und dort dachte sie an ihren Sohn. Nein, sie hat ihn nie geliebt, er hat ihr nur leid getan.
Als ihr zweiter Sohn geboren wurde, überkamen die mütterlichen Gefühle die Frau. Sie war bereit, für ihr Kind zu töten. An den ältesten Sohn dachte sie nicht, aber für den jüngsten tat sie alles, was möglich war – nur um ihn glücklich zu machen.
Ihr jüngster Sohn wuchs heran und wurde genauso ein Taugenichts wie seine Mutter. Er kam nicht aus der Kinderpolizeistation heraus und erhielt mit 15 Jahren seine erste Bewährungsstrafe. Schon bald würde ihm die zweite drohen, und dann das Gefängnis. Also versucht seine Mutter, ihren Sohn vor dem Gefängnis zu bewahren, denn sie weiß aus erster Hand, wie das Leben hinter Gittern ist. Als sie erfuhr, dass der ältere Mann erfolgreich ist, machte sie sich sofort auf die Suche nach seinen Koordinaten.
Und nun sitzt sie weinend bei ihm zu Hause und versucht, ihren Sohn zu berühren. Sie erzählt ihm, wie sie nach ihm gesucht hat, wie sie zu Gott um Gesundheit gebetet hat und jeden Tag hoffte, ihr kleines Blut zu sehen. Er glaubte ihr. Aber irgendetwas in ihrer Mitte sagte ihr, dass sie Abstand halten sollte. Trotz ihrer Ängste mietete ihr Sohn ihr eine Wohnung, gab ihr zum ersten Mal Geld und sagte, sie könne auf seine Hilfe zählen. Er selbst beschloss, sie zu beobachten und Schlüsse daraus zu ziehen, ob sie aus gutem Glauben kam oder nicht.
Vor den Ferien besuchte der Mann das Waisenhaus, in dem er aufgewachsen war. Er brachte dort oft Spielzeug und Essen mit. Eine ältere Babysitterin kam auf ihn zu.
– Mama hat nach deiner Adresse gesucht. Hat sie dich gefunden?
– Ja. Danke, dass du ihr geholfen hast.
– Aber sei vorsichtig, sie will ihren jüngsten Sohn retten. Eine Mutter will nur Geld, vertrau ihr nicht! Sie liebt dich nicht und hat dich nie geliebt.
– Habe ich einen Bruder?
– Ja, frag sie selbst.
Ein Kloß sitzt ihm im Hals, und das Atmen fällt ihm schwer. Er konnte nicht glauben, dass seine Mutter ihn wieder betrügen wollte. Aber er überwand seine Gefühle und ging zu ihr, um alles herauszufinden. Die Frau hatte nicht mit einem solchen Druck gerechnet und wurde unruhig. Sie wollte ihm nicht von dem jüngeren Mann erzählen, weil sie befürchtete, der ältere Mann würde seinem Bruder nicht helfen wollen.
Ein paar Tage später wurde der Mann überfallen. Er wurde so schwer verprügelt, dass sie einen Wachmann anheuern mussten. Die Banditen gaben bei der Polizei zu, dass die Mutter des Mannes sie angeheuert hatte. Sie wollte ihren ältesten Sohn töten und sich als Erbin einsetzen, um ihrem jüngeren Sohn ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen.
Sie bereute vor Gericht, bat ihren Sohn um Verzeihung, aber er zog seine Konsequenzen.
– Ich habe schon einmal ohne Mutter gelebt und ich werde auch jetzt leben! – flüsterte er durch seine Tränen.